Samstag, 20. August 2011

STANLEY PARK & WINE DINING LIKE A KING (II)

Das Wasser auf dieser Seite des Pazifiks fühlt sich genau an wie... wie... wie Wasser. Das letzte Mal habe ich diesen schlechten Witz vor etwa einem Jahr gemacht und er lässt mich an meine Freunde auf der anderen Seite des Pazifiks denken. Ich wende mich im Wasser stehend grob nach Südwest und winke in Richtung Australien (achwas Erdkrümmung, papperlapapp - irgendwie werden die das schon mitbekommen und sei es, dass sie es hier im Blog nachlesen). Eine Mutter, die ein paar Meter weiter mit ihren zwei Kindern ebenfalls im Wasser steht, sieht mich winken und deutet gestikulierend die Frage an, ob ich vielleicht sie mit dem Winken gemeint haben könnte. Ich mache mit beiden Händen eine verneinende Geste und zeige anschließend sozusagen zur Erklärung und mit Nachdruck noch einmal in Richtung Australien. Das nützt der Guten zwar überhaupt nichts, erheitert mich aber ungemein. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, wate ich zurück zum Strand, trockne mir die Füße, deren Temperatur durch das kurze Bad auf normal gesunken ist, ziehe Socken und Schuhe an und begebe mich nunmehr entlang der blauen Linie (die Karte funktioniert genau wie im ersten Teil) wieder in Richtung City - zum zweiten Mal am Second Beach-, zum dritten Mal an der verlorenen Lagune vorbei. 
Auf dem Weg zum Lagoon Drive begegne ich einer Gruppe von Leuten, die dabei zuschauen, wie ein Mann eine vierköpfige Waschbärenfamilie mit rohen Hühnereiern füttert und dazu irgendwelche Erklärungen abgibt. Dieser Mann ist schwarz gekleidet, dunkelhaarig, bärtig und etwas länger als 1,80 Meter. Nun wissen wir also auch, wieso die Waschbärenfamilie sich mir gegenüber vorhin so erwartungsvoll gegeben hat - der Typ wird das wohl häufiger machen und trägt wahrscheinlich häufiger schwarze Klamotten, genau wie ich heute zufällig schwarze Kleidung trage und auch sonst einigermaßen auf die gemachte Personenbeschreibung passe. Schön wenn einem Zusammenhänge ersichtlich werden, ohne deren Aufschluss man aber immer noch völlig unbeschwert weiter leben könnte. Damit sind wir jetzt einmal komplett rum um den Stanley-Pudding. Den Entenschnabel haben wir ein wenig abgekürzt, also ziehen wir 3km von der 9km-Runde ab, dafür sind wir gleich dreimal an der Lagune vorbei, deshalb legen wir wieder 2km drauf.
*** 
Ungefähr zu der Zeit, zu der ich wieder in die Barclay einbiege, registriert mein körpereigener Vorratsverwalter (Peter Pankreas) einen höchst dramatischen, ja womöglich gar lebensbedrohlichen Schwund bei den Fettreserven: "Wer war denn da am Butterschrank?! Und wo ist der ganze Zucker hin?!" Die Darmzotten winden sich ein wenig und versuchen sich aus der Affäre zu ziehen: "Der Metabolismus wars!" Das ist natürlich eine total beknackte Ausrede. Darmzotten: dumm wie Kot. Der ganze Apparat wird abgesucht, nur eine Fraktion wird überhaupt nicht verdächtigt, weil sie für gewöhnlich und sowieso immerzu Pause macht: die Muskeln. Wer hätte darauf schon kommen können? Die Hirnrinde beendet schließlich die überflüssige Debatte: "So, jetzt kümmern sich bitte wieder alle um ihren eigenen Scheiß... "
Mastdarm: "Scheiß?"
Hirnrinde: "(stöhn)... um ihr eigenes Bier."
Leber: "(gähn)... hm? Bier? Schon wieder?" 
Hirnrinde: "Meine Güte! Alle Mann Klappe zu jetzt und weiterarbeiten. Ich jongliere hier oben gerade mit Pfrumeldrogen und sobald ich damit durch bin, gibts Nachschub vom Feinsten." Und sie grummelt noch in sich hinein: "Niedere Körperfunktionen - du kannst nicht mit ihnen leben und Du kannst sie nicht vor den Bus schubsen..."
*** 

In meinen Gedanken verfestigt sich die Idee einer Belohnung für die Mörderwanderung, die jetzt noch lange nicht vorbei ist. Ich werde heute bomforzionös zu Abend essen, soviel steht fest. Dazu muss ich natürlich erst einmal das passende Restaurant finden und das wird sich vermutlich am besten auf der Robson machen lassen, denn "Vancouvers Laufsteg" ist zugleich Vancouvers Restaurantmeile. Weil wir die Barclay Street ja schon kennen, habe ich für den Rückweg ins Westend die Haro Street genommen - nicht ganz so vornehm, aber nicht weniger idyllisch - und biege nach links in die Cordero ein, wo ich ein kleines Delikatessengeschäft mit "Euro Specialties", i.e. einer richtigen Metzgerei mit leckersten Fleisch- und Wurstwaren und einer echten Käsetheke entdecke. Mir läuft (die Hirnrinde hat ganze Arbeit geleistet) das Wassr im Munde zusammen. Das ist jedoch kein Restaurant und ich möchte ja nicht kochen, sondern mich aufs Feinste bekochen lassen und biege also an der nächsten Kreuzung nach rechts in die Robson ein und tune meinen Radar auf feine Restaurants.
Hierzu begleitend wieder ein paar Aushängeschilder, die ausnahmsweise nicht interessant, sondern aus Medienfuzzisicht einfach nur perfekt für ihre Zwecke geeignet sind wie z.B. "Don Guacamole's" oder "Zefferelli's Spaghetti Joint" - witzig, zweideutig aber nicht zu zweideutig, freundlich und einladend in der Aufmachung (dafür ein glatte 1 von mir) jedoch für meine Bedürfnisse zumindest heute nicht etepetete genug. Nee, da muss schon was mit größerem Nasehochfaktor daherkommen und damit wir nicht wie die Bauern in den noch zu findenden Laden hineintrampeln, schalten wir ab sofort von Umgangssprache wieder um auf Schriftsprache... (räusper) Nein, Lokalitäten wie Don Guacamole's und Zefferelli's kommen für mich heute nicht nicht in Frage. Für den heutigen Abend bevorzuge ich ein etwas gehobeneres Ambiente. Besonders wichtig an guten Manieren ist (so finde ich), dass sie auf gar keinen Fall aufgesetzt wirken dürfen, sondern einen natürlichen Bestandteil der Persönlichkeit bilden. Das äußert sich unter anderem im Weglassen bestimmter Kleinigkeiten, die bisweilen als besonders feines Benehmen missverstanden werden. Mit abgespreiztem kleinen Finger die Tasse heben und zu den gespitzten Lippen führen darf man z.B. nur, wenn man bei seiner 7jährigen Nichte zur imaginären Teestunde mit Baronesse Barbié und Lord Teddythorpe eingeladen ist - sonst aber nicht. Es sieht äußerst albern aus und wirkt mehr als affektiert. 
Kleiner Knigge (oder besser 'Kneicke'): Oberstes Gebot, egal ob in feinen Restaurants oder wo auch immer sonst man fremd ist, ist Höflichkeit. Wird die Höflichkeit erwidert, quittiert man das mit Freundlichkeit. Wird die Höflichkeit nicht erwidert, quittiert man das mit kalter Höflichkeit. An das untere Ende dieser Skala nähert man sich über 'herablassende Höflichkeit' bis hin zu 'abweisende Höflichkeit' - wenn man den Bogen heraus hat, kann das ziemlich spaßig sein. Am liebsten bin ich aber immer noch freundlich und das ist eigentlich auch die leichteste der Übungen, denn mit Freundlichkeit kann man sogar vorübergehend unhöfliche Menschen anstecken. Permanent unhöflichen Menschen ist leider nicht zu helfen.

Patina 1
An der Ecke Robson und Jervis werde ich schneller als erwartet fündig. Ich tippele ein wenig auf den Punkten bei der blauen Linie auf und ab, um den Betrieb von außen schon einer optischen Prüfung zu unterziehen. Alle Tische sind mit Weingläsern, Besteck für Vor- und Hauptspeise eingedeckt, dazu schlicht rechteckig gefaltete weiße Leinenservietten auf kleinen zusätzlichen Tellerchen für etwaig anfallende Reste und selbstredend weiße, faltenfreie Leinentischtücher. 
Patina 2
Den Anspruch auf einen Michelin-Stern würde O'Doul's Restaurant & Bar wahrscheinlich nicht erheben wollen (ungeachtet der Tatsache, dass vom Guide Michelin ohnehin nur in Europa Beurteilungen abgegeben werden), denn dazu müsste als erstes die leicht unschöne "Patina" in den Fugen der verklinkerten Fassade entfernt (oder besser noch, die komplette Fassade erneuert) werden. Da ich selbst von einem längeren Spaziergang komme und infolgedessen ebenfalls eine kleine "Patina" angesetzt habe, steht mir hierüber natürlich kein Urteil zu. < Das war (nur zu Demonstrationszweckenangewandte herablassende Höflichkeit. Die Fugen in der Fassade interessieren mich in Wahrheit natürlich nicht ein bisschen, dafür aber umso mehr die Speisen- und Getränkekarte im Aushang und die Preise auf derselben. Der Aushangkarte dringt nun die gehobene Gastronomie aus sämtlichen Poren. Dazu zähle ich jedoch nicht den Umstand, dass viele der Speisen in französischer Sprache aufgeführt sind, denn schließlich sind wir in Kanada und da spricht immerhin rund ein drittel der Bevölkerung fließend französisch - nein, ein weiterer Hinweis findet sich in der Tatsache, dass bei den Getränken kein Bier aufgeführt ist und den wichtigsten Hinweis gibt das Fehlen einer weiteren Kleinigkeit: Es stehen keinerlei Preise auf der Karte.
Das ist der letzte Impuls für meine endgültige Entscheidung: Heute Abend wird diniert im O'Doul's. 

Dummerweise ist es noch nicht 17 Uhr, denn erst dann wird die Lunchkarte von der Dinnerkarte abgelöst und ich bin zum Abend- und nicht zum Mittagessen hergekommen. Etwas mehr als ein Stündchen muss also noch ins Land gehen, bevor ich meine knirschenden Beinknochen unter dem weißen Tischtuch lang machen kann. Bis dahin heißt es einmal mehr, über Alternativen nachdenken. Zielstrebig aber nur noch mit kontinentaldriftartiger Beschleunigung bewege ich mich wieder zur Burrard Street/Ecke Smithe und überfliege das Kinoprogramm des dort ansässigen Scotia Bank Theatre, finde jedoch nichts, dass mich für über 90 Minuten Filmdauer im Halbdunkel eines Kinosaals wach halten könnte (auf der Karte mit "nope" markiert) und sehe mich weiter um. Zum Glück muss ich nicht mehr weit laufen, sondern nur die Smithe Street überqueren und im "Winking Judge Pub" einkehren, wo ich ein Guiness zum Quasi-Aperitif bestelle und während ich nämliches in kleinen Schlucken genieße, die örtliche Presse studiere. In einem der Blätter bemerke ich eine subtile Demütigung unserer Kanzlerin: 
Auf einem Foto mit Sarkozy zusammen abgebildet befand man es trotz Nennung von Vor- und Nachnamen beider in der Bildunterschrift für notwendig, gesondert zu kennzeichnen, dass der Mensch namens Angela links im Bild zu sehen ist. Wenn diese kleine Gemeinheit beabsichtig war, kann ich dazu nur gratulieren...

Entsetzlich laut ist es hier und ungemütlich. Kreuzlahm und beingeschwollen wie ich bin musste ich Trottel mich natürlich auch unbedingt auf einen Barhocker setzen. Nundenn, andere Stühle waren gerade nicht frei und lange muss ich ja auch nicht ausharren - allerdings zu lange für meinen schon zum Origamikranich gefalteten Magen, deshalb beschließe ich ein wenig vor der Zeit zum Restaurant zurückzukehren und schleppe mich nach dem längeren Sitzen mehr humpelnd als gehend noch einmal (entlang der grünen Linie) die Robson Street hinauf und erreiche O'Doul's eine Viertelstunde vor Dinnertime.
Wenn man mit vom Wind zerstausten Haaren in Jeans und mit staubigen Schuhen ein hochpreisiges Restaurant betritt, kann man die Klasse desselben schon in den ersten Sekunden erkennen - an der Begrüßung. Der Barkeeper, bekleidet mit einem modern geschnittenen Anzug in anthrazit, scheint mein zerrupftes Äußeres vollkommen zu übersehen (was mit Sicherheit nicht so ist), nimmt mich offen lächelnd in Empfang und erkundigt sich nach meinem Begehr - i.O. 
Nächster Prüfstein: Ich erkundige mich mit ausgewählter Höflichkeit, ob es eventuell denk- und machbar sei, das Dinner um 15 Minuten vorzuverlegen. Wer sich in der Hierarchie von derlei Betrieben ein wenig auskennt weiß, dass diese Entscheidung mit nichten in die "Jurisdiktion" eines Barkeepers fällt. Und tatsächlich, obwohl der Laden nahezu leer ist, beantwortet er meine Frage nicht sofort, sondern zeigt mir zunächst das Restaurant und erkundigt sich, ob ich innen oder im Patio zu speisen gedenke, bevor er sich in die Küche begibt, um den Chef de cuisine zum Thema Vorverlegung zu befragen.
Ich nehme im Patio Platz und bemerke, dass der Tisch an dem ich sitze ein kleines bisschen wackelt. Als der Barkeeper mit Eiswasser zurückkehrt und mir mitteilt, dass der Chefkoch zu allem bereit ist, lege ich wie zufällig einen Arm so auf der Tischplatte ab, dass der Tisch nur ein einziges Mal sachte kippelt. Der Barkeeper verspricht, dass sogleich die Speisekarte kommen wird und fügt hinzu: "(...) sobald sich jemand um den wackelnden Tisch gekümmert hat." - astrein.

Auf den Plan tritt Kellner Nr.1 (hellgraue Servicejacke, Kummerbund). Jetzt ist es an mir, ein wenig Respekt zu zeigen. Bevor Kellner Nr. 1 sich mit dem Wackeltischproblem auseinandersetzt, das, wie er erklärt mit dem Natursteinboden zusammenhängt, erfrage ich, wie ich zum Waschraum gelange und verabschiede mich dorthin, um den Mann unbeobachtet seinen Job machen zu lassen, mir Hände und Gesicht zu waschen, die Frisur zu ordnen und die Schuhe mit feuchtem Papier ein wenig zu säubern. So erfrischt kehre ich an einen bombenfest stehenden Tisch zurück, als Kellner Nr.2 (gekleidet wie Nr.1) um die Ecke biegt, bewaffnet mit der Dinnerkarte, der Karte für die Specials und der Weinkarte. Er erklärt die Karte mit den Specials als zusammenstellbares Inklusiv-Menü mit Vor- Haupt- und Nachspeise für pauschal jeweils HUST kanadische Dollars. Tja, an einem so schönen Abend sprechen wir nicht über Geld. Preiswerte Specials dieser Art werden in deutschen Fachkreisen unter der Hand gerne auch als "Rumfort" bezeichnet - das ist nämlich alles was in der Küche "rum"liegt und "fort"muss, was keinesfalls etwas über die Qualität des jeweiligen Specials zu sagen haben muss. Schlecht wird das Zeug bestimmt nicht sein, denn ein Laden wie dieser wird sicherlich nicht, um ein paar Dollars am Einkauf zu sparen, seinen guten Ruf riskieren.
Wie dem auch sei - weder möchte ich ein Drei-Gänge-Menü, noch möchte ich heute sparen - ich gebe (schon längst wissend, was ich auswählen werde) vor, die Karte eingehend zu studieren und Kellner Nr.2 tritt ab.

Ich lächele fröhlich in mich hinein und freundlich aus mir heraus und beginne im Kopf die Durchschnittspreise des Restaurants zu kalkulieren: geschätzte 120 Plätze, davon etwa 20 im Patio mit Beleuchtung und künstlichen Wasserfällchen, mittlerweile 3 Mann Bedienung... da taucht auch schon Kellnerin Nr.3 im Patio auf (gekleidet wie Nr.1&2, nur Jacke tailliert) und erkundigt sich nach meinem Getränkewunsch. "Katsching" - In meinem Kopf klettert die Kalkulationsanzeige weiter in die Höhe. Natürlich könnte ich nach der Preisliste, bzw. einer Karte mit Preisangaben verlangen - das wäre aber zu langweilig.
Ich erkläre der Dame, dass ich noch nicht wissen kann, was ich trinken möchte, solange ich nicht weiß, was ich essen werde. Das leuchtet ihr ein. Ich frage nun (nächster Prüfstein für Klasserestaurants) was sie mir über das Rindfleisch sagen kann, speziell über das Angusfilet. Wichtig: Ich stelle keine konkrete Frage, wie z.B. "woher kommt das Fleisch", sondern ganz allgemein, was sie darüber weiß und erhalte unverzüglich und im charmanten Plauderton (es klingt nicht nach auswendig gelernt) umfassende Auskunft über die Lage der Zucht (lokaler Anbieter), sogar den Namen des Farmers, in welcher Art und wie lange das Fleisch gereift ist. Verdammtnocheins, die sind hier aber sowas von auf zack, Hut ab.
Ich ordere das Angus-Filet (medium) und frage weiter, was dazu wohl passen könnte. Sie missversteht die Frage und zählt die Beilagen auf. Ich präzisiere die Frage und höre nun zum ersten Mal das Wort "winewise". Ja, ich meinte 'weinmäßig', was im Deutschen gleichermaßen seltsam klingt. Wie aus der Pistole geschossen kommt die Gegenfrage, ob ich einen Wein aus British Columbia, im allgemeinen kanadischen Wein, oder eher australischen Wein bevorzugen würde. Konsequenterweise bleibe ich in British Columbia und sie empfiehlt zwei schwere Weine zur Auswahl. Ich nehme den Merlot. Kellnerin Nr. 3 tritt ab und meine Laune wird besser und besser und immer besser. So habe ich mir das vorgestellt zum Donnerwetter! Ich bin immer schwer beeindruckt, wenn einer sein Handwerk versteht.

Einer meiner Restaurantmarotten folgend, drehe ich die Faltung der Serviette auf links. Sie wurde gefaltet, dazu muss sie angefasst worden sein und obwohl ich keine Keimphobie oder ähnliches habe, drehe ich in Restaurants die Servietten immer so, dass die unberührte Seite außen ist. Und dabei sehe ich sie, die metaphorische Fliege in der Suppe: ein grauer, daumennagelgroßer Fleck. (undramatisch)
Kellnerin Nr. 3 erscheint wieder, mit einer Karaffe dekantierten Rotweins für genau ein Glas, das sie vor meinen Augen einschenkt. Die Serviette liegt fleckoben auf dem Tisch. Ich entschuldige mich artig für mein Schwierigsein und bitte um eine frische Serviette. Sie tut so, als hätte sie ohnehin vorgehabt, eine neue Serviette zu bringen und lacht mich freundlich an. Von diesem Moment an stehe ich unter strengster Beobachtung, da bin ich mir vollkommen sicher.
Nachdem die neue Serviette am Platz ist (blütenweiß) erscheint ein junger Mann in Kochjacke ("Katsching"), was ich eher ungewöhnlich finde, weil es hier anscheinend mehr Servicepersonal als Gäste gibt, sodass man die Küchenmenschen eigentlich nicht auch noch in den Service schicken muss. Jung wie er ist, glaube ich nicht, dass es sich um den Chefkoch handelt. Sei es wie es sei, er serviert mir als Appetizer ein Stückchen Paté vom Schwein auf einem Teelöffelchen mousse aus frischen Aprikosen, abgeschmeckt mit den üblichen Verdächtigen und Balsamessig, dazu Baguette und ordinäre Butter (kein Werturteil - ich liebe ordinäre Butter).
Bevor ich mich an dem Apetizer gütlich tue (und das mit einer Wonne, die man sich kaum vorstellen kann), teste ich den Schärfegrad meiner Beobachtung, leere mein Wasserglas mit einem großen Schluck und zähle langsam im Kopf 1, 2, 3, 4,... Als ich bei 17angekommen bin, erscheint Kellnerin Nr.3 mit der Wasserkaraffe um mir nachzuschenken und sich zu erkundigen, wie sich der Wein mit meinen Geschmacksnerven verträgt.

Du liebe Güte! Vor lauter Freude über so viel Luxus auf einen Sitz (in mir lacht alles) hätte ich beinahe den Wein vergessen. Spaßhaft schaut sie ein bisschen streng darob und verschwindet wieder. Nun bin ich weiß der Himmel kein großer Weinkenner, aber ich weiß, wie man eine unglaublich spannungsgeladene Show aus der Weintrinkerei macht. Wichtig: Wein wird nicht geschwenkt, das macht man mit Weinbrand
Man hält das Weinglas leicht schräg und bewundert die Farbe des Inhalts im Gegenlicht, aber bitte nicht wie einen Peilstab hoch in die Luft oder wie einen Sextanten ans Auge halten. Dann, wenn man das Glas wieder aufrichtet, sieht man genüßlich zu, wie sich der am Glasrand stehengebliebene Weinfilm in Schlieren seinen Weg zurück ins Glasinnere bahnt. Und dann... dann riecht man am Wein, ganz langsam und stellt das Glas wieder ab, als hätte der Geruch einen an irgendetwas erinnert. Und dann... dann riecht man noch einmal und starrt gedankenverloren ins Nichts und dann... dann trinkt man schnell einen Schluck, bevor man sich vor Lachen in die Hosen macht. Ich könnte jetzt so etwas schreiben, wie: "Der blutschwere Merlot glitt mir über die Zunge, wie Brokatsamt über die schneeweiße Schulter einer Jungfrau...", aber wir wollen den Schultern und den Jungfrauen nicht unrecht tun. Ich sags wies ist: Der Merlot ist wirklich außerordentlich lecker, ebenso wie der Apetizer. Karl May und Stanislaw Lem verbrachten übrigens auch Wochen damit über nix zu schreiben - ich mochte beide immer sehr gerne und bisher mache ich mich auch gar nicht so schlecht oder?
Ich könnte auch ununterbrochen damit fortfahren, aber die Hauptattraktion ist ja noch gar nicht in der Manege erschienen. Noch eben denke ich es, da sehe ich Kellnerin Nr. 3 durch das Portal in den Patio treten, einen rechteckigen Teller auf dem Arm balancierend, von dem ein betörender Duft in mein Näschen steigt. Pech für Euch: Ich habe angefangen zu essen, bevor ich den Teller fotografiert habe.
"Die Portion ist aber nicht so gewaltig", mag der ein oder andere jetzt vielleicht denken. Stimmt! Es heißt nicht nur zum Spaß fein Essen gehen. Das Wort hat eine Bedeutung, die absolut nichts mit der Quantität oder dem Preis einer Sache zu tun hat. Und das hier, liebe Gourmands, ist feines Essen. Die Zwiebelringe sind extra für die Sekunde aufgeschnitten worden, in der man sie in den würzigen Backteig getaucht und im tiefen Fett so ausgebacken hat, dass sie im Inneren noch schön saftig, scharf und süß und außen würzig und knusprig sind. Das Gemüse - bestehend aus jungem grünen Spargel, Prinzessböhnchen, Babymöhrchen und tournierten Kolrabistückchen - ist liebevoll blanchiert und in goldener Butter durchgeschwenkt, das Kartoffel-Selleriepüree haut mich aus den durchgeschwitzten Socken und die Sauce... DIE SAUCE treibt mir die Tränen der Dankbarkeit für meine Geburt in die Augen.

Kellnerin Nr. 4 ("Katsching"- die "Zivil"-Kleidung lässt keine Schlüsse auf ihre Postion in der Hackordnung zu) tritt zu mir an den Tisch, der ich im siebten Himmel schwebe und das Essen viel mehr in Zeitlupe lutsche als es zu kauen und erkundigt sich, wie das Fleisch schmeckt. Ich antworte mit keinem Ton, sondern lächele sie seelig an, bis sie bemerkt: "Oh, Sie haben das Fleisch ja noch gar nicht gekostet. Verzeihung. Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt...", (was glaubt die eigentlich, was ich hier mache) "...ich werde gleich noch einmal nach Ihnen sehen." Jaja, husch husch, geh mit Gott mein Kind, aber geh.

Der große Moment ist gekommen, ich greife zum Steakmesser, das Kellnerin Nr.3 zwischendurch irgenwann gebracht hat, lege es wieder hin, nehme noch einen Schluck vom Merlot, greife wieder zum Steakmesser und schneide zärtlichst und mit Gefühl in die Kruste aus braun karamellisierten Röststoffen, durch den butterweichen Kern und es ist... durchgebraten.
Ähm... das war ein Stück vom Rand. Ich beginne mit der Zeremonie von Neuem und schneide dieses Mal quer durch die Mitte des Stücks und es bleibt dabei - es ist durchgebraten.
Damit ergibt sich für mich ein kleines Problem. Einerseits ist das nicht das, was ich bestellt habe, andererseits ist es so lecker und die Menschen sind bald im halben Dutzend so sehr um mein Wohlbefinden bemüht, dass ich schwerst mit mir selbst ringe. Da kommt auch schon wieder Kellnerin Nr.4. Sie scheint mir den inneren Konflikt von den Augen ablesen zu können und hat einen beinahe mütterlichen Klang in der Stimme als sie mich fragt: "Is everything alright with the meat". Wortlos und beinahe verlegen streiche ich mit der Messerspitze über die Schnittfläche, bevor ich dann doch anhebe zu sprechen: "Well, to be completely honest...", und mich selbst wieder unterbreche. Ich bringe einfach nicht übers Herz, es auszusprechen und frage sie stattdessen betreten: "Now what do you think?" Jetzt habe ich endgültig die Mama in ihr geweckt, obgleich sie immer noch die Distanz wahrt und die Höflichkeitsformeln niemals außer acht lässt: "Well you don't need to worry, Sir (wahrscheinlich hätte sie lieber Baby gesagt, bleibt aber Profi). We can fix that for you." Ich fühle mich nicht besonders wohl, weil "fix" (reparieren) in dem Fall "neu machen" bedeutet. Beinahe überredet sie mich dazu, den Teller zurückgehen zu lassen und ich lasse mich zu guter Letzt auch gerne überreden, allein schon wegen der vielen "Katschings". Kellnerin Nr.4 räumt den Teller ab und verschwindet.

Die Geschäftleiterin erscheint an meinem Tisch. Sie braucht keine besondere Kleidung, bei ihr sieht man ohne weiteres sofort woran man ist. Sie schenkt mir Eiswasser nach, während sie sich im Namen des Chefkochs für das Fleisch entschuldigt und versichert mir, dass das nächste Stück absolut perfekt sein wird. Ich beginne mich zu fragen, ob als nächstes womöglich John Cleese um die Ecke kommt, um sich aus Verzweiflung über das misslungene Fleisch ein großes Kochmesser in die Brust zu rammen. Weil Madam Chef nun einmal da ist, bestelle ich bei ihr noch ein Glas von dem leckeren Merlot, das, so sagt sie mir, natürlich aufs Haus gehen wird. Über alldem wird es allmählich Abend.
Ich nippe am Wasser und Kellnerin Nr.3 erscheint mit einer neuen Karaffe Merlot. Ich traue mich nicht mehr ihr einzugestehen, dass das erste Glas nicht perfekt dekantiert war. Würde sie den Inhalt der neuen Karaffe nicht so schnell in das alte Glas gießen, könnte sie noch die Schwebstoffe vom ersten Schwung am Rand kleben sehen. Sie verspricht sobald als nur menschenmöglich mit dem neuen Teller wiederzukehren.

Um kurz nach sechs Uhr ist es soweit. Nicht nur das Fleisch ist neu, auch die Beilage sind frisch und neu hergerichtet. Am Genuss hat sich nichts geändert, ich schwelge in Zeitlupe und auch die Reihenfolge halte ich wieder genau so ein und hebe mir das Beste für den Schluss auf - übrigens ganz ohne von den KellnerInnen Nr.1-4 irgendetwas gefragt zu werden. Das ebenfalls frische Steakmesser senkt sich langsam und mit viel Gefühl geführt durch die Kruste der Röststoffe durch den weichen Kern und es ist... durchgebraten... bis auf einen winzig kleinen rosa Kern, eigentlich kaum der Rede wert.
Kaum ist das Fleisch angeschnitten, nähert sich auch schon wieder Kellnerin Nr.3 (ich stehe immer noch unter Beobachtung): "How is the meat this time, Sir?" Ich setze ein Pokerface auf: "Better." Sie spürt, dass etwas nicht stimmt: "Is it better better? Or is it just hum... better." Ich bleibe bei meiner ersten Version: "It's better, thanks." Und siehe da, es wird tatsächlich noch besser! Ab etwa der Hälfte ist das Steak absolut perfekt medium gebraten. Vielleicht stimmte nur mit der Grillpfanne etwas nicht. Jedenfalls kann ich jetzt mein feines Essen noch bis zum Ende in vollen Zügen genießen, während langsam die Sonner über Vancouver sinkt. Ich tunke und stippe mit dem verbliebenen Baguette die Sauce bis zum letzten Tröpfchen auf, da erscheint noch einmal Kellnerin Nr.3 und bietet mehr Sauce an. Ich muss mich zurückhalten, um nicht auf die Knie zu fallen und um ihre Hand anzuhalten. Natürlich stelle ich ihr gegenüber auch das gepokerte "Better" noch richtig und lasse Komplimente durch sie an den Chefkoch übermitteln. 

Und was kommt zum Schluss? Die Rechnung natürlich. Was glaubt Ihr wohl, hat dieser Abend mit einem Gang in zwei Anläufen gekostet? Soviel sei dann doch verraten: Das eine Glas Merlot, das auf der Rechnung stand, hat vierzehn CAN$ gekostet. Das Essen war meiner Ansicht nach viel zu preisgünstig, deshalb gebe ich ein ordentlich ordentliches Trinkgeld. Das wird Kellnerin Nr.3 aber erst finden, wenn ich schon wieder humpelnd auf dem Heimweg ins Ghetto bin. Man mag sich vielleicht fragen, warum ich in einer der übelsten Gegenden der Stadt und in einem der billigsten Hotels absteige und dann in der Nobelgegend Westend 'massenhaft' Kohle (so viel wars auch wieder nicht) in Nobelrestaurants verpulvere. Zum einen ist dazu zu sagen, dass ich das Geld keinesfalls für verpulvert halte und zum anderen, dass ich z.B. bei der Unterkunft spare, damit ich mal so richtig schön dekadent aber auch fein essen gehen kann. Logisch, oder?

Nundenn ihr Leut, es liegen noch ca. vier Kilometer grüne Linie vor mir, die ich trotz Blasen am linken Fuß, von denen sich morgen eine entzünden wird, tapfer marschiere. Den Weg kennt ihr aber größtenteils schon, deshalb laufe ich den Rest gerne allein.

2 Kommentare:

  1. Mir fließt gerade der Niagara im Munde zusammen. Oder wie hippe Leute sagen: *auch will*. d;.p

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  2. @Iven: *was will*? 6 Leuts um dir den Popo hinterherzutragen oder 2 x Steak mit Sauce und Extrasauce?
    Sag nix, ich kenne die Antwort.

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