Montag, 23. August 2010

BRIDGE CLIMB (II)

Die Tour über das Stahlgerüst der Brücke beginnt im Inneren des Brückenkopfes an der Südseite, in der Cumberland Street 3. Man betritt den Brückenkopf zur ebenen Erde, entrichtet seinen nicht unerheblichen Obulus für dieses Erlebnis, steigt im Brückenkopf ein Stockwerk nach oben, wird in einen albernen Strampelanzug gesteckt, mit Gurtzeug angeschirrt und einem Funkgerät nebst Headset ausgestattet, sodass man seinen Guide jederzeit hören kann und sich ein bisschen wie Captain Kirk fühlen darf. Dann entert man – nachdem das Sicherheitsgurtzeug in einer Art Führungsseil eingeklinkt ist, aus der oberen Stirnseite des Brückenkopfes in die Stahlträgerkonstruktion der Brücke unterhalb der Fahrbahn – einen Holzsteg, der ungefähr die Breite von zwei Bierbänken hat. Höhe über Grund an dieser Stelle: ca. 16 Meter. Sachlich ist das natürlich alles völlig korrekt, aber nicht unbedingt auch einfach nachzuvollziehen. Fotos durfte ich ja leider keine machen, aber zum Glück gibts ja Sketchup und die Firma IleSoft (here's your plug buddies & thx) stellt dankenswerterweise vollkommen kostenfrei ein 3D-Model der Brücke zur Verfügung, in dem ich ein bisschen herummalen kann, um das recht kompliziert Klingende ein wenig zu illustrieren. Die Konstruktion unterhalb der Fahrbahn haben die Buben relativ schluderig und lückenhaft gezeichnet, aber es reicht aus um eine Idee von der Sache zu bekommen. Und überhaupt: Dem geschenkten Barsch...
Wir waren also auf den Bierbänken unter der Fahrbahn. Von hier aus bewegt man sich in einem sanften Aufstieg auf die beiden südlichen Brückenpylonen zu, zwischen denen man hindurch kraxelt und befindet sich ein paar Schritte weiter bereits über dem Wasser. Es pustet ziemlich kräftig und die Mädchen aus der Schweiz haben sich ihre Fleecejacken (die zum Strampler dazugehören) übergestreift. Alex erzählt über Funk immer wieder ein paar Details über die Konstruktion – z.B. dass die Träger von insgesamt sechs Millionen Nieten zusammen gehalten werden, macht Angaben über die Höhe, in der wir uns aktuell befinden und einiges anderes mehr ich höre ihr allerdings nicht sonderlich aufmerksam zu, weil erstens die vielen Sinnesreize, die auf mich einströmen ohnedies schon große Teile meiner Wahrnehmungsfähigkeit in Anspruch nehmen und zweitens, weil Alex einen starken Aussie-Akzent hat und ein wenig zum Nuscheln neigt. Habe ich jetzt endlich ein wenig Bammel? Ich höre tief in mich hinein und höre nichts weiter als vollkommene Ruhe. Über mir rumpelt und poltert der Straßenverkehr, unter mir glitzert die Sonne auf dem Wasser, rechter Hand liegt die Oper, vor der ein paar Yachten kreuzen und der weiter auffrischende Wind streicht mir durch die Flaumhaare an den Ohren (muss ich mal wieder rasieren) und ich fühle mich einfach nur pudelwohl. 
Akrophobie am Popo.
Ungefähr auf einem viertel des Weges zur anderen Seite verlassen wir den östlichen Brückenrand und begeben uns in Richtung Fahrbahnmitte, durch die eine ca. einen Meter

breite Leiter beinahe senkrecht in die Höhe führt. Hier beginnt der Aufstieg auf die Brückenbögen. Da die Leiter aus Gründen der Sicherheit nur einzeln bestiegen werden darf, verabschiedet sich Alex kurzerhand, klettert voran und überlässt uns zwei weiteren 

Guides (Nicole und Stacy), die den lieben langen Tag nichts anderes zu tun haben, als dort unter der Fahrbahn zu stehen und darauf acht zu geben, dass die tumben Touristen auch wirklich einzeln und mit gebührendem Abstand die Leiter nach oben erklimmen.  Da durch dieses Prozedere ein wenig Wartezeit entsteht, machen die zwei Guides das, was man hier überall am liebsten tut: Konversation. Wo kommst Du her und warum bist Du hier, wie gefällt es Dir in Sydney denn so, besuchst Du Freunde und/oder Verwandte? U.s.w. u.s.f. Allmählich habe ich mich an diese Art Klönschnack derart gewöhnt, dass tatsächlich so etwas wie eine Unterhaltung entsteht, anstatt eines einseitigen Frage-Antwort-Frage-Antwort-Gesprächs und weil ich der letzte in der Gruppe bin, habe ich auch am längsten Zeit mit den zwei Mädels unter der Brücke herumzualbern. Wie ist das wohl, ein Brückenmädchen zu sein? Hm. Merkwürdiger Job.
Nicole richtet mir mein Sonnenbrillen-Befestigungs-Bändchen (das ebenfalls zur Standardausrüstung gehört), verabschiedet sich mit der immer wiederkehrenden Formel "have a nice stay" und Stacy gibt mir das Zeichen, dass die Leiter jetzt frei ist. Ich klettere also durch die Öffnung in der Fahrbahn nach oben und jetzt kommt dann doch endlich Fracksausen auf. Angst verleiht vielleicht nicht wirklich Flügel aber mitunter sehr schnelle Beinchen und ohne es zu bemerken, steige ich die Leiter so schnell hinauf, dass ich nach kürzester Zeit die 15-jährige Schweizerin eingeholt habe und das soll ich doch nicht! Also atme ich tiiiiief durch, gebe dem Schweizer Mädel wieder ein wenig Vorsprung und schaue ein bisschen dumm aus dem Strampler und in der Gegend umher. Schon nach Kurzem beruhigt sich der Puls wieder, die Atmung funktioniert auch wieder normal und obwohl ich auf einer blöden Leiter ungefähr 60 Meter über der Erde stehe, Autos unter mir hindurchrauschen und der Wind mir durch das Polyester pfeift, stellt sich plötzlich wieder diese eigenartige innere Ruhe ein. Es ist alles wieder cool und froody.
Oben auf der südöstlichen Ecke des Bogens angkommen gibt es, wie häufiger während der gesamten Führung, einen kleinen Halt. Diese Pausen werden eingelegt, um den kurzatmigeren Besuchern einen Moment zum Durchschnaufen zu verschaffen und zu verhindern, dass zwei oder mehrere Gruppen über einander stolpern. Während dieser Pausen macht Alex Fotos oder – wie sollte es auch anders sein – Smalltalk. Zuerst fotografiert sie die beiden Familien und schickt sie dann ungefähr 30-40 Meter weiter den Bogen hinauf, sodass auf meinem Foto außer mir niemand in die Kamera grinst und bleibt im Anschluss, entfernt vom Rest der Gruppe, noch eine Weile mit mir dort stehen, um ein kleines Schwätzchen zu halten.
Nun bin ich eigentlich der Ansicht, dass es keinen geeigneteren Ort für einen netten Plausch gibt als das gebogene Stahlgerüst einer Brücke über den Dächern der Stadt, mittlerweile jedoch bläst der Wind so heftig, dass mir trotz Sonnenbrille die Tränen über die Wangen kullern und zudem die Verständigung immer schwieriger wird.
Alex (brüllender Weise): „Crying already ay?“
E (zurückbrüll): „No, it's just the Wind.“
Alex (grinst): „Not a problem mate. It's not a shame ((---) wird vom Wind verschluckt) an emotional guy!“
E (grinst zurück): „You're right! I'm such a softy.“
Alex: „So tell me, what (---) do (---) climbing the bridge?“
Ich versuche die Frage im Kopf zu vervollständigen und antworte: „Next thing will be to get a ticket for the opera."
Alex hebt die Augenbrauen: "What (---) at (---) opera?!"
E: "Yup, the big white building behind me, that looks a little like giant hollow claws. They play music in it and stuff."
Alex (lacht): "Yeah I know. But what I wanted to know (---) your job at the opera?"
Jetzt ist es an mir, die Augenbrauen hochzuziehen: "My job there will be to listen to music I guess."
Es hat ganz den Anschein, als redeten wir über verschiedene Dinge. Alex ist wohl der gleichen Meinung, fühlt sich aber wahrscheinlich auch ein bisschen von mir vereimert (was gar nicht in meiner Absicht lag): "Sorry for asking stupid questions. Seems our communication is broken somehow."
Für diese Art von Beziehungsgespräch scheint es mir dann doch noch etwas früh zu sein. "No. I don't think so...", entgegne ich, aber Alex hat jetzt keine Lust mehr auf Plauderei. Wir setzen die Tour fort und schließen zum Rest der Gruppe auf. Was zum Donner ist da gerade passiert?
Dem höchsten Punkt der Brücke immer näher kommend passieren wir unterwegs das Gehäuse eines Wartungskrans. Im Inneren ist es einigermaßen Windgeschützt und man kann sich wieder in normaler Lautstärke unterhalten. Da ich mich aber immer noch mit der Frage beschäftige, was überhaupt das etwaige Missverständnis gewesen sein könnte, versuche ich nicht ein neues Gespräch zu beginnen, sondern lausche Alex' Ausführungen zur Brücke und der Umgebung über das Headset. Von hier aus sind es nur noch wenige Schritte bis zum Scheitelpunkt und Zentrum der Bögen. Es werden wieder Fotos gemacht und von nun an, wie weiland die Knef beinahe sang, gings bergab.
Der Wind hat noch einmal ordentlich zugelegt und ich liebe das. Ich könnte stundenlang hier oben sitzen, Picknick machen und warten bis die Sonne untergeht und je stärker der Wind, desto besser. Jedoch, die nächste Gruppe ist bereits in Sicht und die Tour neigt sich ihrem Ende entgegen. Auf- und Abstieg unterscheiden sich in sofern, als der Abstieg nun über den westlichen Bogen und im weiteren über die komplette Westseite der Brücke zurück in die Cumberland Street erfolgt. Man geht also wieder in Richtung Pylonen, um als erstes noch einmal von einem Guide an der abwärts führenden Leiter mit Smalltalk beschätigt zu werden. Diese hier heißt Tracy (nicht zu verwechseln mit Stacy) und wir kommen auf meinen bevorstehenden Geburtstag zu sprechen. Über was man mit den Brückenmädchen nicht so alles ins Gespräch kommt... Sie sagt, das alles wäre ja nur halb so schlimm, denn 40 sei ja bekanntermaßen das neue 30. Dieser Spruch riecht eindeutig nach... riecht wie Ich wittere TV-Serien-Fans Kilometer gegen den Wind, schaue mir Tracy etwas genauer an und bin mir sicher – 100% Gilmore-Girls-Fan. Ich sage ihr das auf den Kopf zu und hinterlasse sie damit einigermaßen verwundert, als die Leiter für mich frei wird. Statt mir ein "have a nice stay" hinterher zu quaken, fragt sie "how did you know that?" Ich zwinkere ihr zu und antworte: "Because green is the new pink."
Auf der Leiter platzt dann auch endlich der Gesprächsknoten über das Ostbogen-Missverständnis mit Alex in meinem Kopf. Manchmal bin ich aber auch zu schwerfällig. Sie wollte natürlich nicht wissen, was ich nach dem Bridge Climb mache, sondern was ich so mache, wenn ich gerade nicht auf der Brücke herumkraxele und weil ich die Oper erwähnt hatte, dachte sie ich arbeite in der, bzw. für die Oper. Am Fuß der Leiter und wieder unterhalb der Fahrbahn angekommen, schnappe ich mir Alex direkt und kläre die Sache auf.
Alex: "Kept you busy ay?"
Mit dieser Annahme hat sie völlig recht und ich bin froh, dass das vom Tisch ist, selbst wenn ich Alex wahrscheinlich nie wiedersehen werde und es mir eigentlich Wurscht sein könnte, was da oben schief gelaufen sein mochte. Immer besser, man ist es los.
Zurück in der Cumberland Street schirren wir ab, ziehen uns um, holen uns unsere Fotos ab und verabschieden uns von Alex. Sie drückt mir kräftig die Hand und schmunzelt ein bisschen: "It's been nice walking the bridge with you." Ich antworte: "It's been nice talking on the bridge to you."
Bevor ich mich wieder in Richtung Chinatown davonmache, gebe ich dem Schweizer Familienvater noch den ernst gemeinten Rat, in Australien nicht mehr die Daumen-Hoch-Geste zu verwenden, wie er es mehrfach während der Führung getan hat. Daumen hoch bedeutet in Australien das selbe, wie der hochgereckte Mittelfinger in Mitteleuropa. Papa Toblerone ist ein wenig peinlich berührt aber noch viel peinlicher berührt sind seine Töchter. Am liebsten würden sie ihm wohl Hausarrest erteilen.
Danach ziehe ich friedlich und tiefenentspannt meiner Wege. Ich kann nicht genau sagen, was mit mir da oben auf der Brücke passiert ist, aber irgendwie habe ich das sichere Gefühl, dass dieser recht kostspielige Spaziergang genau das richtige war. Irgendeine neurotische Verstopfung in mir hat sich da oben gelöst.
Bei Hungry Jack's fahre ich ein paar hohle Kalorien ein und denke darüber nach, wie ich die Fotos für den Blog von der Foto-CD auf mein Netbook bekomme, das über kein entsprechendes Laufwerk verfügt. Hmmmm.... "Howong-Ors"?
Eigentlich wollte ich da ja nicht mehr hin, aber hey, was könnte an so einem wundervollen Tag noch Schlimmes passieren?

6 Kommentare:

  1. Hach, wie schön! Nicht, dass ich je auch nur im Entferntesten darüber nachdenken würde, selbst dort raufzukraxeln, aber das muss ich jetzt ja auch gar nicht mehr. Lesen ist viel besser. Und hält die Tiefenentspannung noch an trotz "Howong-Ors"?

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  2. @E Somit liegen die 134 Meter der Brücke über Deiner Angstschwelle? Wie lange ca. dauerte die Besteigung denn?

    Toll bebildert haste das. Thumbs (secretly) up. =)

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  3. @zbrwld: Nein nein nein nein nein! Lesen ist nicht besser. Zweite-Hand-Erlebnis usw. Howong-Ors ist nur ein Hinterher-Pups und eine willkommene Pointe. Tiefenentspannung hält immer noch an. Dies ist eine Empfehlung für Akro -oder sonstige Phobiker.

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  4. @Reinhold Cindy Closen: Die komplette Führung dauert rund dreieinhalb Stunden. Wo oder wie hoch meine Angstschwelle liegt, weiß ich immer noch nicht. Wann bist Du zuletzt auf einen Turm gestiegen? Probiere es aus und Du wirst mir Recht geben: Es gibt einen Punkt, an dem die Höhe ihren Schrecken verliert. It's all in your brain bud.

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  5. @eicke: Weiß nicht, weiß nicht. Das Elbsandsteingebirge hat gegen MEINE Höhenangst jedenfalls nichts genutzt. Im Gegenteil: Jetzt weiß ich auch, was so' richtige kleine Panik ist. Deshalb: Doch besser nur lesen - zumindest was Besteigungen angeht.

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  6. @zbrwld *hrhrhrhr* =)

    @eicke Bergsteigen hatte mir tatsächlich nie Angst bereitet, dafür Blasen.
    Jedoch auf Schienen der lustigen Wuze-Town-Bahn 16 Meter in die Tiefe stürzen ist echt scary.

    Ich freu mich schon auf Deine Erlebnisse in der Oper.

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