Montag, 6. September 2010

STEALING A LITTLE DAYLIGHT

Das Wetter hat in den vergangenen drei Tagen vor unserer Abreise ins
Outback in aller Deutlichkeit gezeigt, was es davon hält zu dieser Jahreszeit pauschal mit dem Begriff  'Trockenzeit' abgestempelt zu werden: „Trockenzeit?! ICH GEB' EUCH TROCKENZEIT, IHR KLEINEN...“, und sogleich alles, aber auch wirklich alles vom Himmel geschüttet, was es nur zu bieten hatte. Ich glaube, es hat dabei sogar wild mit Armen und Fäusten zornesentbrannt in der Luft herumfuchtelt, genau wie ein verbiesteter Rentner dem schon wieder der Ball von den missratenen Nachbarsblagen in den Vorgarten geflogen ist.
Als ich noch ein kleiner Junge war, lebte genau so ein Rentner im Haus nebenan. Der benutzte neben Armen und Fäusten allerdings noch einen Krückstock, um seiner Erbostheit sozusagen mit einer künstlichen Verlängerung etwas mehr Nachdruck zu verleihen. Ich habe ihm als kleines Dankeschön dafür damals dicke, braune Matschbälle an die geweißtelte Hauswand geworfen.
Das Wetter im australischen Osten ist zwar alles andere als in Rente, jedoch noch um ein Vielfaches älter als mein früherer Nachbar und schon deshalb hielt es beim Herumfuchteln vermutlich sogar mehrere Krückstocke in beiden Händen. Ergebnis: An diesem und den folgenden Tagen kommt es zu schlimmsten Überschwemmungen entlang der gesamten Ostküste.
Zum Glück gab es in Cairns keine folgenreichen Überschwemmungen und mit Matschbällen hätte ich das Wetter wahrscheinlich ohnehin nur wenig beeindrucken können, also saß ich die meiste Zeit auf dem Balkon unter der Marquise und hörte dem alten Mann beim Wettern zu. Hätte es nicht so viel geregnet, hätte ich bestimmt auch nicht so viel Zeit zum Schreiben gehabt. Matschbälle können eben in den verschiedensten Formen daherkommen...


***
Wir brechen gegen Vormittag zu einer etwa zehn Stunden währenden Fahrt nach Richmond auf. Dazu müssen wir zunächst von Cairns aus in Luftlinie gemessen rund dreihundert Kilometer an der Küste entlang nach Süden fahren, um dann in Townsville (ein reichlich beknatterter Städtename) scharf nach Westen zu drehen und noch einmal ca. vierhundert Kilometer hinter uns zu bringen.
Den größten Teil der Fahrerei übernimmt Jack. Was das Fluchen über andere Autofahrer betrifft: Es beginnt sofort in Cairns. Ich weiß, diesen Punkt hatten wir bereits, ich muss allerdings heute erkennen, dass Jack diesbezüglich durchaus nicht vaginal fixiert ist, sondern für diesmal überwiegend aus dem Phallischen shöpft. In halbwegs neutralen Termini ausgedrückt bevölkern nunmehr also in seinen Augen eine ganze Menge Penisköpfe, kopulierende Penisse und Fellatiotreibende die Straßen und ich bin eigentlich ganz froh, die Welt in diesen Momenten nicht mit seinen Augen sehen zu müssen, denn es gibt darin nach meinem Empfinden eindeutig zu viele autofahrende Genitalien.

Nachdem wir die Stadtgrenzen von Townsville nach einer schnellen Pipi- und Zigarettenpause verlassen haben, führt der Highway für eine kurze Weile in südwestlicher Richtung und weist im Anschluss fast pfeilgeradeaus nach Westen – für Stunden und Aberstunden. Es gibt zwar in Abständen hin und wieder ein paar sanfte Kurven (oder eher Kürvchen), die aber um absolut nichts herumführen – keine Städte, keine Seen, keine Berge und ich frage mich wozu sie wohl gut sein mögen. Je weiter man landeinwärts kommt, desto steppenartiger wird die Landschaft. Die Bäume sind kleiner und dürrer und von nicht so viel üppigem Grün umgeben wie ihre verwöhnten Verwandten an der Küste. Wenn ich nicht wüsste, dass das hier Australien ist, könnte man mich ohne Schwierigkeiten davon überzeugen, dass es sich um eine südamerikanische oder afrikanische Steppe handelt, andererseits könnte man mich auch in Köln-Nippes aussetzen und mir erzählen, es handele sich um Köln-Ehrenfeld – soviel zu meinen Steppenkenntnissen.
In einiger Entfernung zum Highway rauschen gelegentlich Behausungen von Farmern an uns vorbei, denn diese Beinahewüste, mit ihren nach Wasser japsenden Grasinselchen ist tatsächlich zu großen Teilen Weideland. Früher einmal gab es wohl auch unendlich lange Weidezäune, aber mittlerweile hält man davon nicht mehr allzu viel, weshalb man als Automobilreisender auch auf dem Highway mitunter gezwungen ist, wegen der ein oder anderen Kuh am Fahrbahnrand, oder schlimmer gar, auf der Fahrbahn, ein bisschen auf die Bremse zu treten, es sei denn man möchte gerne Blitztartar und einen Totalschaden am Auto produzieren. Wahrscheinlich wegen der nach Wasser japsenden Grasinselchen und der auch ansonsten spärlichen Vegetation sehen die Kühe hier nicht ganz so wuchtig aus, wie ich das von deutschen Weiden kenne, sondern eher so als bräuchten sie ein Spendenkonto für die Weihnachtszeit und seitliche Stützräder für die ganz besonders harten Tage.
Während der gesamten Fahrt überqueren wir immer wieder kleine Flüsschen und Bäche (engl. 'Creeks'), die, völlig ungeachtet der für die Jahreszeit ungewöhlichen Überschwemmungen an der Küste des Landes, ausgetrocknet sind und über deren Namen kleine schwarz-weiße Straßenschilder Auskunft erteilen. Zumeist scheinen sich diese Namen an der Form des Flussbetts zu orientieren (Two Sausage Creek), womöglich aber auch an der hier angesiedelten Fauna (Cobra Creek), ein ganz besonderer Name jedoch gibt mir ein etwas größeres Rätsel auf: Buyabra Creek (KaufeeinenBüstenhalter Bach). Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer diesen Namen wann erfunden haben mag, ich würde aber nur zu gerne zwei Theorien anbieten, die zur komplett fehlgeleiteten Legendenbildung beitragen sollen.
Theorie 1: Die Besitzerin des Landes rund um den Creek machte sich mit zunehmendem Alter immer mehr Sorgen um ihr körpereigenes Bindegewebe und taufte das Flüsschen auf den Namen 'Buyabra', um sich selbst jedes Mal beim Anblick des Straßenschildes daran zu erinnern, dass das Leben Dich sogar dann (zumindest partiell) richtig blöd runterziehen kann, wenn Du doch eigentlich gar nichts falsch gemacht hast.
Theorie 2: Der Besitzer des Landes rund um den Creek machte sich mit zunehmendem Alter seiner Frau immer mehr Sorgen um ihr körpereigenes Bindegewebe und taufte das Flüsschen auf den Namen 'Buyabra', um sie jedes Mal beim Anblick des Straßenschildes daran zu erinnern, dass etwas auf ihrem Einkaufszettel fehlt. 
So sind sie nunmal, unsere australischen Freunde – straight forward and fair dinkum*.
Ein anderer Geschichtenverzapfer als ich würde an dieser Stelle vielleicht damit fortfahren, dass wir nach stundenlangem monotonen Surren der geländegängigen Reifen allmählich in die Dunkelheit führen und läge damit ziemlich daneben. Da wir in uns gerader Linie westwärts  bewegen – also entgegen der Erdrotation – flüchten wir gewissermaßen vor der Tag-Nachtgrenze mit den hier vorgeschriebenen 110 km/h. Über diese jämmerliche Geschwindigkeit kann die Erdrotation jedoch noch nicht einmal müde lächeln, denn ihr unsichtbarer Antrieb beschleunigt sie mit rund 1400 km/h, sodass nicht wir in die Dunkelheit hinein fahren, sondern die Tag-Nachtgrenze uns Flüchtlinge mit Überschallgeschwindigkeit einholt, über uns hinweg brettert und im Dunkel zurücklässt. Als ich diese Gedanken laut ausspreche (ich neige gelegentlich zum Laut-Vor-Mich-Hin-Denken), bemerkt Bianca scharfsinnig: "But that also means, that we are stealing a little daylight!" Durch unsere Reiserichtung haben wir tatsächlich noch ein Weilchen länger Tageslicht als die weiter östlich gelegenen Gebiete und also ist ihre Bemerkung nicht nur wahr, sondern auch so charmant formuliert, dass ich nicht umhin kann nun meinerseits von ihr zu stehlen, um eine Überschrift daraus zu machen stealing a little headline (so to speak).

***
Ein ungeduldiger Leser mag sich bei all der furchtbar umständlichen und nicht zum Punkt kommenden Erzählerei ein wenig nervös ins Ohrläppchen kneifen und dabei denken: "Gottverdammte Sauzucht! Müssen sie denn nicht bald mal irgendwo ankommen?!"
Ich verrate Dir jetzt mal was, mein lieber ungeduldiger Leser: Exakt den selben Gedanken hege ich auch, während ich mir hier im Geländewagen die Backen platt sitze. Also halt gefälligst die Füße still, denn exakt das selbe tue ich im Augenblick auch.

*fair dinkum ist ein typisch australischer Ausdruck und bedeutet in etwa 'aufrichtig' oder 'ernsthaft', '"ohne Mist"' aber auch 'ein gutes Stück Arbeit'. Es gibt ein paar etymologische Erklärungen für den Ausdruck, die aber allesamt unbelegt sind. Und warum sollte ich allein die ganze Arbeit machen? Ihr könnt ja auch mal ein bisschen googeln... 

4 Kommentare:

  1. So ungeduldig ich auf Deine Rückkehr, Eicke, und einen neuen Betrag gewartet habe (der unterhaltsam wie immer ist) - eine kritische Frage muss auch mal erlaubt sein: Bin ich eigentlich die Einzige, die sich noch Minuten nach der Lektüre keiner anderen Tätigkeit widmen kann, weil sie nur noch Sternchen und rote Streifen sieht???

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  2. Bislang bist Du tatsächlich die Einzige, die sich über derartige Beschwerden beklagt. Wer hätte gedacht, dass mein Blog wie LSD wirken könnte? Wenn es aber doch nur an der Schriftgröße liegen sollte: Apfel + (aber das weißt Du natürlich)

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  3. Wahrlich schön beschrieben, trotz (oder gerade?) der langwierigen Fahrerei. Ich hatte vor Dekaden die Strecke von St. Louis bis Washington absitzen dürfen, freilich umsäumt von wesentlich mehr Vegetation.

    Sachenz Eicke, in was für einem Vehikel verlief die Fahrt? Hatte das Modell auch so eine schmoose Stoßdämpfung, die beinahe Seekrankheit hervorzurufen vermag?

    Grüße aus der Steppe Nippes. =)

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  4. @Iven: Nissan Pathfinder - Bilder folgen aber später noch im Blog. Federung und Geländewagen: Ein rumpeliges Thema... Hauptsache schwarz.

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